Mentale Stärke und Gruppendynamik im Curling
Jede Sportart stellt unterschiedliche Anforderungen an den einzelnen Athleten. Dazu gehört im Allgemeinen, sich beispielsweise realistische und ambitionierte Ziele zu setzen, mit Rückschlägen und Niederlagen umgehen zu können sowie eine hohe intrinsische Motivation und Stresstoleranz zu haben. Neben diesen allgemeinen mentalen Anforderungen an jede Spitzensportlerin und jeden Spitzensportler weist die Sportart Curling spezifische Charakteristika auf: Die zweimalige Kontaktzeit zum Stein pro End ist im Spielverlauf pro Spieler verhältnismäßig kurz. Aktionen finden situativ und auf Grundlage einer Strategie statt. Die Erfahrung hat einen großen Einfluss. Präzision von Bewegung unter Druck ist eine wichtige Komponente. Entscheidungen müssen getroffen, verstanden und akzeptiert werden. Der Skip als „Kapitän“ des Teams spielt eine noch größere Rolle als der Kapitän in anderen Sportarten, sowohl auf spielerischer Ebene (der Spielausgang ist häufig von den Skip-Steinen abhängig), als auch auf emotionaler Ebene auf und neben dem Eis. Aus diesen sportartspezifischen Charakteristika resultieren folgende Anforderungen im Bereich mentale Leistungsfähigkeit und Gruppendynamik, die neben den sportartunabhängigen mentalen Anforderungen an jede Spitzensportlerin und jeden Spitzensportler von besonderer Bedeutung im Curling sind:
1. Gruppendynamik
In den Bereich der Gruppendynamik fällt die Entscheidungsfindung, die Kommunikationsfähigkeit, die gemeinsame Zielfindung, die Rollenklärung und die Fähigkeit zur Selbststeuerung.
Die Fähigkeit, sich in ein Team integrieren zu können, ist im Curling zentral, da die Gesamtleistung nicht nur nicht eine Aufsummierung der Einzelleistung aller Einzelspieler ist. Dies zeigt sich beispielsweise in der Notwendigkeit einer gemeinsamen, lösungsorientierten Entscheidungsfindung, welcher Stein in welcher Situation und für welchen Spieler am besten geeignet ist. Dies bedarf ein enormes Maß an Abstimmung und Vertrauen in jedes Teammitglied, welches insbesondere unter Druck (z.B. wenn die Steine des Skips am Ende über den End-/Spielausgang bestimmen) entscheidend zum Tragen kommt und häufig unmittelbare Verhaltenskonsequenzen hat, sich also direkt auf die Leistung auswirkt. Bei diesen taktischen Strategieentscheidungen nimmt der Skip eine entscheidende Rolle ein und hat eine enorme Verantwortung, die aber trotzdem von allen Mitspielern getragen werden muss. Dabei muss auch ein angemessener Umgang mit Fehlentscheidungen gefunden werden.
Eine hohe Kommunikationsfähigkeit ist weiterhin auch beim Wischen zentral, wo alle vier auf dem Eis stehende Spieler innerhalb kürzester Zeit effektiv und zielführend kommunizieren müssen, um dem gespielten Stein die richtige Länge und Richtung zu geben.
Darüber hinaus können Ziele nur verfolgt und erreicht werden, wenn alle Teammitglieder zusammenarbeiten. Dazu müssen sich die Athleten ihrer Abhängigkeit von den anderen zunächst bewusst werden und bereit sein, sich mannschaftsdienlich zu verhalten. Dies bedeutet, dass häufig eigene Interessen untergeordnet und persönliche Opfer erbracht werden müssen, um als Team siegen zu können, beispielsweise wenn es darum geht, wer welche Position spielt. Weiterhin gilt dies sowohl im täglichen Training (z.B. Abstimmung von Trainingszeiten), aber auch bei der Rollenfindung und auf dem Eis, wenn es um das Treffen und Akzeptieren von Entscheidungen geht sowie in besonderem Maß für den Alternate.
Bzgl. der Rollenklarheit und deren strategischer Einhaltung ist festzuhalten, dass in einer Teamsportart wie Curling jeder Einzelne wissen muss, wo sein Platz im Teamgefüge ist. Dies betrifft die Rolle auf dem Eis wie auch außerhalb des Eises. Dabei entscheidet der Trainer in der Regel über die sportliche Rolle im Team. Zentral sind insbesondere im Curling aber auch soziale Rollen und die mit den Rollen einhergehenden verhaltensbezogenen Konsequenzen, z.B. Aufgabendefinitionen.
Schließlich bedarf es im Curling einer hohen Fähigkeit zur Selbststeuerung. Denn die Teams sind häufig sehr selbstständig und müssen sich sowohl auf dem Eis (z.B. Flexibilität in der Taktik, Anpassung auf die aktuelle Situation) als auch außerhalb des Eises (Saisonplanung, Organisation von Reisen, Trainingsplanung und -durchführung) sehr gut selbst steuern können. Dies gelingt nur mit einem hohen Maß an Selbstdisziplin (z.B. Durchführung von Athletiktraining) und der Fähigkeit sich selbst und das eigene Handeln immer wieder zu hinterfragen und anzupassen.
2. Mentale Leistungsfähigkeit
Zunächst ist festzuhalten, dass die beiden Aspekte der Gruppendynamik und der mentalen Leistungsfähigkeit nicht voneinander zu trennen, sondern voneinander abhängig sind und sich wechselseitig bedingen.Spezifisch in Bezug auf die mentale Leistungsfähigkeit lassen sich aber folgende zentrale Kompetenzen festzuhalten:
Selbstregulation von Emotionen und Erregung
Eine gelungene Selbstregulation ist in den meisten Sportarten von großer Bedeutung. Im Curling ist diese Fähigkeit aber besonders wichtig, da häufig dasjenige Team gewinnt, das weniger Fehler macht als der Gegner, insbesondere gegen Ende des Spiels. Dies bedeutet, dass es im Verlauf des Spiels immer wieder zu Frustrationserlebnissen kommt, die emotional verarbeitet werden müssen, um im weiteren Spielverlauf wieder erfolgreich sein zu können. Dazu müssen Emotionen reguliert und die Erregungskurve (Kombination aus Anspannung und Entspannung) entsprechend angepasst werden können.
Konzentrationssteuerung
Die Konzentration muss über die sehr lange Spielzeit (Dauer je Spiel mind. 2h) aufrechterhalten werden. Es müssen Möglichkeiten gefunden werden, um auch während des Spiels den Fokus unterschiedlich ausrichten zu können (z.B. kurze Zeit abschalten und sich bewusst nicht konzentrieren), um sich dann aber wieder auf den Punkt (dann, wenn der nächste Stein ansteht) konzentrieren zu können. Dazu ist die Etablierung von Routinen wichtig, die gleichzeitig in besonders kritischen Situationen für Selbstsicherheit sorgen kann.
Regulation von Anspannung und Entspannung
Diese Fähigkeit ist deswegen im Curling besonders wichtig, da die Spielzeiten sehr lang sind (s.o.), bei wichtigen Turnieren mehrere Spiele an einem Tag statt finden (Back-to-back-Spiele) und zudem häufig noch spät abends und am nächsten Tag wieder sehr früh gespielt werden muss. Daher ist es von zentraler Bedeutung, sich bewusst an- und entspannen zu können. Dazu muss zunächst eine Sensibilität für den eigenen Spannungszustand entwickelt werden, um dann die Anspannung über mentale Trainingstechniken bewusst regulieren zu können.
Bewegungsvorstellung/ Visualisierung
Im Curling entscheiden beispielsweise bei der Abgabe des Steins wenige Millimeter darüber, ob der Stein perfekt gespielt wird oder ein Fehlstein resultiert. Deswegen ist es von entscheidender Bedeutung, dass mithilfe von Visualisierungstechniken die Bewegungsausführung auch mental optimiert wird. Zudem helfen Visualisierungstechniken beispielsweise beim Umgang mit Nervosität, indem sie dem Sportler Sicherheit in der Bewegungsausführung verleihen.
Wettkampfstabilität
Insbesondere während der Saisonhöhepunkte (EM und WM) sind die Athleten enormen Belastungen (physischer und psychischer Art) ausgesetzt, da am Tag i.d.R. zwei Spiele angesetzt sind und dies über einen Zeitraum von einer Woche. Hier ist es wichtig, dass man während des gesamten Turnierverlaufs fokussiert bleiben kann und nicht gegen Ende eines Spiels oder zum Turnierende hin einbricht. Diese Belastungen müssen im Vorfeld trainiert werden, sodass sich die Sportler an die Anforderungen gewöhnen und einen entsprechenden Umgang damit finden können.